Mexiko, woher die Texte des Erzählbandes Potslom stammen, ist ein Land mit vielen parallelen Welten, ungleichzeitigen Zeitläufen und verschiedenen Zeiträumen. In vielen Geschichten tritt dies deutlich zutage. In der Erzählung Der Reiter wird ein Raum eröffnet, in dem ein Geist nicht schläft, sondern als Schatten auf einem großen und stattlichen Pferd durch das Dorf reitet. In der Geschichte Achá Turí! wird ein fremder Mann, von dem gesagt wird, er sei ein Sklave von Hernán Cortés gewesen, gefangen genommen und dann zum König eines Dorfes gekrönt.
Nebensächlichkeiten bekommen in den Geschichten ein für westliche Leser*innen befremdliches Gewicht. So zum Beispiel in der Geschichte Erinnerungen an einen Gewissenlosen, eine persönliche Erinnerung an den Ausbruch des Vulkans Chichonal 1982. Den Aluminiumtopf, in dem der Großvater am Morgen des Vulkanausbruchs die Bohnen aufwärmte, hatte dieser bei einem fahrenden Händler auf dem Markt von Magdalena gekauft. Der Ausbruch des Vulkans, bei dem ein Steinhagel das Dach aus Pappe zerschlug, wird fast beiläufig beschrieben. In diesem Minimalismus, der Abwesenheit des Brutalen, wird die Apokalypse des Vulkanausbruchs betont. Diese Geschichten eröffnen Panoramen, in denen man die vom offenen Herdfeuer verrauchten Häuser fast riechen oder den schnarrenden Klang einer abgewetzten Gitarre hören kann.
In der Geschichte Die Blase im Mund des Indios werden die noch heute wirkenden kolonialen und rassistischen Strukturen der Unterdrückung deutlich und außerdem die Probleme der Übersetzung fassbar. Der Begriff „máasewal“ wird aus dem Maya ins Spanische und Deutsche als „Indio“ übersetzt. Im Englischen wird es als „Indian“ übersetzt. Der Begriff „máasewal“ bezeichnet aber auch einen sozialen Status, mit dem in Yucatán heute „einfache Leute“, Bauern und Proletarier gemeint sind. Gleichzeitig hat er eine ethnische Bedeutung. Am Ende der Geschichte gibt der Großvater seinem Enkel den Rat, die brennende Blase in seinem Mund als Quelle seiner Kraft zu verstehen und genau dann, wenn der Schmerz nicht mehr auszuhalten ist, den Kampf des Unterdrückten aufzunehmen und den Fremden zu verletzen.
Beim Lesen wird klar: Das Abenteuer der Übersetzung ist ein Zweifaches. Zum einen ist der Prozess der Übersetzung immer wieder ein Mysterium, in dem der Inhalt aus einer Sprache in eine andere Sprache hinüber gesetzt wird. Zum anderen kann sich durch das Lesen der Übersetzung ein Tor zu einer fremden Lebenswelt öffnen. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen dieser Geschichten die fremden Lebenswelten versteht. Nein, vielmehr bekommt man ein Gefühl für die Fremdheit und das eigene Unverständnis. Aber nur so kann ein Verstehen erarbeitet werden: Wenn man vom Unverständnis ausgeht und Schritt für Schritt auf einander zugeht, ohne dabei die sozio-ökonomischen und kulturellen Unterschiede in einem „Wir sind doch alle Menschen“ zu negieren. Wenn man die ethnische Frage auf sozio-ökonomische Konflikte reduziert, verhindert das den Blick auf das Andere, das kulturell Fremde und man sieht im Spiegel nur sich selbst.
Der Erzählband Potslom umfasst 12 Geschichten in neun verschiedenen indigenen Sprachen Mexikos: Purépecha. Mayo, Tepehuano del notre (Odarni), Nahuatl, Mazateco, Triqui, Maya, Zoque und Tsotsil, die wiederum jeweils ins Spanische, Deutsche und Englische übersetzt wurden. Dass aus dem Spanischen ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, ist natürlich schade, da bei einer direkten Übersetzung der Inhalt weniger verändert werden würde. Eine direkte Übersetzung hätte den Kosten- und Zeitrahmen des Erzählbandes sicherlich gesprengt. Die Prosatexte in diesem Band sind mal Geschichten und Erzählungen, mal persönliche Berichte, ein anderes Mal Fabeln oder Legenden.
Potslom, die Erzählung, die dem Buch seinen Namen gegeben hat, unterscheidet sich von den anderen Geschichten, da sie einen Spannungsbogen und eine überraschende Wendung hat. Ein anderer Autor aus dem Buch bezeichnete in einem Gespräch mit dem Herausgeber diese Geschichte als verunreinigt. Der Autor von Potslom war zur Universität gegangen und hatte dort die westliche Logik von Geschichten gelernt. Für den Herausgeber, Lino Santacruz Moctezuma, stellt dieser Prozess jedoch vielmehr eine Bereicherung dar und den Kontakt, den er mit der Veröffentlichung dieses Buches anstrebt: Die indigenen Welten in Mexiko sind der urbanen-mestizischen Mittelschicht weiterhin unbekannt. Das Buch will diese parallelen Welten zusammenbringen, Brücken bauen und einen Beitrag leisten zu der Frage: Wer sind wir Mexikaner*innen? Und was macht uns aus?
Harry Thomaß